Einstein-Syndrom

Spontaneität

 

„Hätte ich die Folgen geahnt, wäre ich Uhrmacher geworden.“

 

 

Wir reagieren mit einer verminderten Fähigkeit zur Selbstbeherrschung aus dem Affekt heraus ohne im Moment über die Auswirkungen unserer Reaktion nachzudenken. Gefühle und Gedanken schleudern wir dabei oft unüberlegt und unkontrolliert in unsere Umgebung. Unser sensibles und instabiles Gemüt wird von häufigen und schnellen Stimmungswechseln begleitet. Das rührt daher, dass es primär von den Gefühlen statt vom Verstand beeinflusst wird. Deshalb kommt es regelmäßig zu intensiven Gefühlsausbrüchen.

Während wir beispielsweise für den einen Moment noch völlig euphorisch und enthusiastisch auf unsere Mitmenschen wirken, können wir uns, ausgelöst durch eine Geste oder Bemerkung, schon im nächsten Moment wie ein „Hitzkopf“ besonders leicht aufregen und dabei außer uns geraten. Für einen Außenstehenden erscheinen wir dabei häufig wild, unberechenbar und hemmungslos mit einem überzogenen Verhalten.

 

Einstein …zeigt zunehmend Verachtung für die Menschen, bei denen, anders als bei ihm, ››die Sinne die unmittelbare Herrschaft über die Gefühle ausüben‹‹…(Strauch [59], S. 40)

 

 

Unsere Spontaneität prägt sich in verschiedenen Formen aus:

 

 

14.1 Impulsives Denken

 

Wir haben die Eigenschaft aus unseren spontanen Gedanken unmittelbare Schlussfolgerungen zu ziehen, ohne das der Gedanke an sich erst einmal gründlich hinterfragt wird. Da unsere Kognition von unseren Gefühlen kontrolliert und gesteuert wird, die wiederum durch Emotionen ausgelöst werden und mit Erfahrungen aus der Vergangenheit verknüpft sind, werden wir uns aus diesem Gefühl heraus grundsätzlich dazu veranlasst fühlen uns spontan ein Urteil über unsere Mitmenschen und unsere Umgebung zu bilden.

Dies führt zu überstürzten Urteilen, die manchmal auch unzutreffend sein können. Das situationsabhängige spontane Urteilen, kann gerade in neuen Situationen zu falschen Entscheidungen führen, wenn diese nicht als solche erkannt werden.

 

„Es tut mir leid, dass ich dich vorhin nicht beachtet habe. Ich habe dich einfach falsch eingeschätzt, weil du mich an jemanden erinnert hast, der gemein und hinterhältig ist. Ich sollte meine Vorurteile besser hinterfragen.“ (Betroffene)

 

In Prüfungen führen unsere voreiligen Gedanken und Schlüsse häufig zu Flüchtigkeitsfehlern. Das rührt auch daher, dass entscheidende Details nicht vollständig wahrgenommen oder aus der Ungeduld heraus einfach nicht berücksichtigt werden.

 

 

14.2 Impulsives Reden

 

Wir sprechen häufig wortwörtlich das aus, was uns gerade in den Sinn kommt. Gefühle und Gedanken werden dabei frei ausgesprochen, ohne zu hinterfragen, ob der Kommentar situations- entsprechend angebracht und von sozialem Vorteil ist. Deshalb werden wir oft als vorlaut, frech und hemmungslos wahrgenommen.

 

…Die ehrwürdige Universität Genf feiert den 350. Jahrestag ihrer Gründung durch den Reformator Johann Calvin…Einstein erinnert sich später so: ››Das Fest endete mit dem opulentesten Festessen, dem ich in meinem ganzen Leben beigewohnt habe. Da sagte ich zu einem Genfer Patrizier, der neben mir saß: ›Wissen Sie, was Calvin gemacht hätte, wenn er noch da wäre?‹ Als er verneinte und mich um die Meinung fragte, sagte ich: ›Er würde einen großen Scheiterhaufen errichtet und uns alle wegen sündhafte Schlemmerei verbrannt haben.‹ Der Mann sprach kein Wort mehr.‹‹…(Strauch [80], S. 84)

 

Wir werden von unseren Mitmenschen für unsere direkte Art zwar meist als aufrichtige Persönlichkeiten geschätzt, im Alltag können wir wegen unseren Meinungsäußerungen jedoch auch erhebliche Nachteile erfahren. Zum Beispiel bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei, die nicht selten mit einer Beamtenbeleidigung endet und durch ein hohes Bußgeld bestraft wird.

 

Selbst im Schriftverkehr, in dem mehr Zeit bleibt die kränkenden Auswirkungen eines emotionalen Gedankens richtig einzuschätzen, finden sich impulsive Kommentare.

 

Albert Einstein in einem Brief zu seiner Professur:

…Seine Berufung zur Professur kommentiert er reichlich derb: ››Nun bin ich also auch ein offizieller von der Gilde der Huren.‹‹… (Strauch [81], S. 81)

 

Da uns die möglichen Auswirkungen unserer überstürzten Kommentare, wenn überhaupt, erst durch unser Grübeln wirklich bewusst werden und wir durch unsere Gewissenhaftigkeit dann von einem Reue-, Angst-, oder Schamgefühl geplagt werden, versuchen wir häufig noch im Nachhinein unseren Kommentar zu entschuldigen oder gar zu korrigieren:

 

…Einstein hatte bereits 1920 in seiner weit blickenden Art vorhergesagt, dass er durch Kernspaltung gelingen könnte, die Atomenergie als neue Energiequelle zu erschließen. Und er hatte auch bereits auf die möglicherweise verheerenden Folgen hingewiesen: ››Sämtliche Bombardements seit Erfindung der Feuerwaffen zusammengenommen wären eine harmlose Kinderspielerei gegen der Zerstörungseffekt.‹‹…

… Später drückt er sich in der Öffentlichkeit sehr viel vorsichtiger aus. So schreibt er 1935, dass die Wahrscheinlichkeit, nach seiner Formel E = mc2 in der Praxis Materie in Energie umzuwandeln zu können, äußerst unwahrscheinlich sei: Es ››ist genau so, als würde man im Dunkeln auf Vögel schießen, und zwar in einem Land, wo es kaum Vögel gibt.‹‹… (Strauch [82], S. 227)

 

Viele von uns sprechen auch offen über persönliche Angelegenheiten, die gewöhnliche Menschen als intim und daher eher für sich behalten würden. So kann es vorkommen, dass wir mit unseren Berufskollegen offen über sexuelle Angewohntheiten und Neigungen sprechen.

 


14.3 Impulsives Handeln

 

Wir handeln von Natur aus unüberlegt aus unserem Gemüt heraus. Erst gemacht, dann gedacht. Das rührt daher, dass wir unsere Gefühle frei ausleben, ohne vorher bewusst über die möglichen Konsequenzen unseres Verhaltens nachzudenken. Wir haben in diesem Moment unsere Gefühle einfach nicht unter Kontrolle. Deshalb wirken wir auf Außenstehende meist zügellos und überdreht. Im Nachhinein werden unsere extremen Reaktionen dann oft bereut.

Da wir auf emotionale Ereignisse unmittelbar reagieren, sind wir übermütig und leichtfertig und lassen uns schnell zu etwas hinreißen oder anstiften. Dieses überstürzte Verhalten kann jedoch erhebliche soziale Auswirkungen haben.

 

Aus Angst davor, dass die Deutschen an einer Atombombe arbeiten, lässt sich Einstein von seinen Kollegen zu einem Brief an Präsident Roosevelt überreden, der letztendlich zum Manhatten-Projekt führen wird:

…Am 2. August 1939 heißt es darin: ››Einige mir im Manuskript vorliegenden neuen Arbeiten von E. Fermi und L. Szilard lassen mich annehmen, dass das Element Uran in naher Zukunft in eine neue wichtige Energiequelle verwandelt werden könnte. Gewisse Aspekte der Situation scheinen die Aufmerksamkeit und, wenn nötig, rasches Handeln der Regierung zu erfordern … Das neue Phänomen würde auch zum Bau von Bomben führen, und es ist vorstellbar – obwohl sehr viel weiniger gewiß -, daß extrem starke Bomben eines neuen Typs auf diesem Wege konstruiert werden können. Eine einzige Bombe dieser Art, auf einem Schiff befördert oder in einem Hafen explodiert, könnte sehr wohl den ganzen Hafen zusammen mit Teilen des umliegenden Gebiets zerstören.‹‹…

(Strauch [83], S.231-232)

 

Unser impulsives Handeln hat jedoch nicht nur Nachteile. So können wir in gefährlichen Situationen, in denen keine Zeit zum Nachdenken bleibt, souverän reagieren. Beispielsweise bei einem Feuer oder einem Verkehrsunglück. Während gewöhnliche Menschen mit der Situation schnell überfordert und dadurch handlungsunfähig sind, agieren Einstein-Syndrom-Menschen instinktiv, ohne nachzudenken. Das impulsive Reagieren, ohne zu überlegen was richtig oder falsch sein könnte, führt aus unserer Intuition heraus fast ausschließlich zu einem situationsentsprechend korrektem Verhalten. Deshalb findet sich viele von uns im Rettungsdienst wieder. Wenn es wirklich drauf ankommt, sind wir wahre Überlebenskünstler.

 

 

 

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Einstein-Syndrom 2012-12-21  |  Copyright © 2014 Dirk Lostak