Einstein-Syndrom

 9.                      Wahrnehmung

 

„Die ganz Schlauen sehen um fünf Ecken

und sind geradeaus blind.“

 

 

Dieses Kapitel widmet sich einer ganz besonderen Eigenschaft, welche sich als Fähigkeit erwies jene Erkenntnisse zu erlangen, die in dieser Arbeit erläutert werden. Sie ist eine unserer bedeutenden Merkmale, die Wahrnehmung.

Ein Prozess, bei dem wir stärker als der Populationsdurchschnitt auf Reize reagieren und diese viel eingehender wahrnehmen und verarbeiten. Dabei nehmen die Sinnesorgane zwar nicht mehr Informationen als durchschnittlich auf, dafür werden aber weniger Sinneseindrücke aus der Wahrnehmung herausgefiltert, sodass sich unsere Aufmerksamkeit auf gleich mehrere Sinneseindrücke verteilt.

 

 

9.1 Vigilanz

 

Bei der Aufnahme von Sinneseindrücken funktioniert die Aufmerksamkeit gewöhnlicher Menschen beispielsweise wie ein Visier, welches auf ein bestimmtes Objekt gerichtet ist. Dagegen funktioniert unsere Aufmerksamkeit eher wie ein Radar, welches permanent durch Reize aus dem Umfeld beeinflusst wird.

Dies ist auf eine angeborene schwächere Filterwirkung bei der physiologischen Reizaufnahme zurückzuführen, sodass mehr Reize als „wichtig“ eingestuft werden und letztendlich das Bewusstsein erreichen. Jeder Sinneseindruck gestaltet somit direkt den Wahrnehmungsvorgang des Auffassens, Erkennens, Beurteilens und des emotionalen Empfindens. Dadurch erleben wir unsere Umwelt viel intensiver und detaillierter. Wir nehmen Dinge wahr, die anderen verborgen bleiben. Ein „Sechster Sinn“, wenn man so will.

 

…was gibt es nicht alles zu entdecken …Wer freut sich über den Spatz auf dem Balkon, auf die Bewegung des Blattes im Wind, kullernde Kinderaugen, für Sekunden im Traum erhascht…

…Was anderen entgeht, die feinen Details des Daseins, die Spinnfäden, der Hauch des Schönen im Alltäglichen, wir nehmen es wahr, für einen Augenblick vielleicht nur, aber trotzdem. Wir funktionieren ähnlich wie ein Radio, das gleichzeitig alle Sender empfängt… (Ryffel-Rawak [10], S. 46)

 

Menschen mit dem Einstein-Syndrom sind wachsamer. Man kann uns nicht wirklich überraschen. Wir scannen unsere Umgebung und Mitmenschen regelrecht und taxieren währenddessen alles gründlich. Wenn wir nicht gerade mit etwas sehr interessanten beschäftigt sind oder in unserer Gedankenwelt stecken, entgeht und absolut nichts. Diese Vigilanz, die allen Menschen mit dem Einstein-Syndrom zuteil wird, ist die Fähigkeit mehr zu erleben und die Welt anders wahrzunehmen.


 

9.2 Ablenkung

 

Ein entscheidender Nachteil dieser Fähigkeit ist, dass wir dadurch permanent abgelenkt sind, denn unsere Aufmerksamkeit richtet sich zwangsläufig immer auf neue oder als wichtig empfundene Sinneseindrücke. Wegen dieser Eigenschaft werden wir von unseren Mitmenschen oft als zerstreute oder unaufmerksame Persönlichkeit wahrgenommen, denn die Ablenkung zeigt sich als Schwierigkeit, sich anhaltend auf etwas konzentrieren zu können. Wir schweifen regelmäßig ab und konzentrieren uns auf andere Dinge, die in diesem Moment einfach interessanter sind oder eine größere Bedeutung für uns haben.

Die Tagträumer unter uns werden sogar durch ihre Gedanken abgelenkt. Dadurch vergessen diese Menschen ihr eigentliches Vorhaben. Das rührt daher, dass der Erinnerungsfluss gestört oder unterbrochen wird durch das, was man gerade tut.

 

„Ich biete meinen Besuchern nie etwas zu trinken an, da ich mich sofort in einem Gespräch verliere oder von anderen Dinge ablenken lasse und es dann vergesse.“ (Betroffener)

 

„Dauern stelle ich die leere Flasche in den Kühlschrank, weil ich mich schon auf etwas anderes konzentriere.“ (Betroffener)

 

…Türen und Schubladen – mache sie nie hinter mir zu, dann komme ich zurück, sehe, dass sie noch offen sind und mache sie zu… (Hallowell/Ratey [21], S. 154)

 

Die permanente Ablenkung ist auf unsere spezielle Wahrnehmung mit einer sprunghaften Aufmerksamkeit zurückzuführen. Sie äußert sich als Unfähigkeit sich anhaltend auf ein Objekt oder eine Situation konzentrieren zu können, wenn sie uns nicht überaus stimuliert, dass heißt, für uns neu, aufregend oder interessant ist.

 

Es gibt drei verschiedene Gründe, durch die wir regelmäßig abgelegt werden:


 

Die erste Art bezieht sich auf die Ablenkung durch die Umgebung

 

Schon als Kinder waren wir der „Hans-guck-in-die-Luft“ und auch als Erwachsene hat sich daran nichts geändert. Wie werden kontinuierlich von Ereignissen abgelenkt, die in diesem Moment für unser Bewusstsein einfach bedeutsamer erscheinen als das Ereignis, auf das unsere Aufmerksamkeit bis dahin gerichtet war. So werden wir schon durch die leisesten Geräusche oder die schwächsten Signale abgelenkt:

 

„Während ich mich draußen mit jemand Unterhalte, werde ich ständig durch äußere Einflüsse abgelenkt. Ich beobachte, wie ein Schwarm Vögel über uns hinweg fliegt, höre ein Kind aus der Nachbarschaft weinen oder nehme aus meinem Augenwinkel einen alten Mann wahr, der uns am Fenster beobachtet. Ich weiß nicht, wie andere Menschen es schaffen sich permanent auf eine Sache zu konzentrieren.“ (Betroffener)

 

All diese Phänomene nehmen wir bewusst wahr, während wir das Gespräch immer noch unterschwellig mitbekommen. Das macht uns zu echten Multitasking-Persönlichkeiten.

 

Die permanente Ablenkung durch die Umgebung rührt daher, dass unser Bewusstsein äußerst sensibel auf unterschiedlichste Sinneswahrnehmungen aus der Umwelt reagiert:

 

 

Visuelle Wahrnehmung:

 

Bei der visuellen Reizaufnahme wird unsere Aufmerksamkeit durch den gesamten Blickwinkel beeinflusst. Während sie bei gewöhnlichen Menschen auf einen bestimmten Bereich im Blickfeld fokussiert ist, verteilt sie sich bei uns dagegen über das gesamte Blickfeld und wird dadurch von wesentlich mehr Reizen beeinflusst.

 

Dieser Effekt macht sich sehr gut beim Lesen einen Textes bemerkbar:

 

Gewöhnliche Menschen lesen einen Text mit einer fokussierten Aufmerksamkeit und können sich auf jedes einzelne Wort konzentrieren. Menschen mit dem Einstein-Syndrom nehmen gleich mehrere Wörter aus einer oder gar mehreren Zeilen auf. Dabei entgehen uns meist kleine aber wichtige Details, wodurch häufig Flüchtigkeitsfehler entstehen, weil Textaufgaben nicht richtig gedeutet werden.

 

Bei zu vielen visuellen Reizen ist es uns nicht mehr möglich etwas anzuvisieren. Deshalb wirken wir ziellos und verwirrt, wenn wir beispielsweise jemanden in einer großen Menschenmenge suchen.

 

 

Auditive Wahrnehmung:

 

Ähnlich ist es mit der Akustik. Permanent nehmen wir Umgebungsgeräusche bewusst war, es sei denn, sie werden von einem viel lauteren Geräusch maskiert. Diese Fähigkeit ermöglicht uns zwar das Anpeilen gleich mehrerer Geräuschquellen, allerdings werden wir dadurch selbst von den leisesten Tönen einer Geräuschquelle beeinflusst.

 

Folgende Beispiele dazu:

 

  • Ein Schüler wird während seiner Prüfungsvorbereitung Zuhause schon durch das Ticken der Wanduhr in seinem Zimmer oder das Zwitschern der Vögel von draußen abgelenkt.
  • Während einer Vorlesung nimmt der Student die Flüstergeräusche seiner Nachbarn sehr intensiv war, welche die Worte des Dozenten übertönen.
  • Ein Paar führt eine Unterredung aus zwei verschiedenen Zimmern.
  • Ein kleiner Junge ist in sich gekehrt und scheint von seiner Außenwelt völlig abgegrenzt zu sein, bis er plötzlich auf seinen Namen reagiert, den er von der hintersten Ecke des Kindergartens wahrgenommen hat, und aufspringt.

 

Diese Situationen geschehen meist völlig unbewusst.

 

 

Olfaktorische Wahrnehmung:

 

Auch Gerüche nehmen wir viel intensiver wahr. Uns ist es sogar möglich gleich mehrere Gerüche zu unterscheiden, während ein gewöhnlicher Mensch nur den stärksten Geruch wahrnimmt.

 

 

Gustatorische Wahrnehmung:

 

Der Geschmackssinn wird ebenso wie der Geruchsinn intensiv durch chemische Reize angesprochen. Dadurch können wir selbst die feisten chemischen Reize schmecken oder gleich verschiedene Geschmackssorten „herausgeschmecken“.

 

 

Taktile Wahrnehmung:

 

Die Hypersensiblen unter uns fühlen sogar intensiver. Ihr Tastsinn ist noch ausgeprägter. Selbst schwache Luftzüge oder kleinste Temperaturveränderungen werden gespürt. Eine Fähigkeit, selbst kleinste physikalische Veränderungen oder feinste Oberflächenstrukturen wahrzunehmen. Diese Hypersensibilität macht uns jedoch besonders kitzelig und auch schmerzempfindlicher.

 

Es gibt regelrechte Verbindungen zwischen visuellen, akustischen, olfaktorischen, gustatorischen und taktilen Reizen. Augenblicke, Geräusche, Gerüche und Gefühle, werden als Emotionen zu einem besonderen Gefühl verknüpft und in unserem Langzeitgedächtnis gespeichert.

 

 

Die zweite Art bezieht sich auf die Ablenkung durch Langeweile

 

Wir werden schnell unkonzentriert, wenn etwas als uninteressant empfunden wird und uns die notwendige Stimulation fehlt. Gezieltes Fokussieren, etwas durchzuhalten und abzuschließen wird dann zur großen Anstrengung für uns. Dadurch können wir nur für einen kurzen Zeitraum die notwendige Leistungsbereitschaft für etwas aufbringen. Deswegen beenden wir uninteressante Dinge oder stupide Aufgaben nur selten und wenden uns lieber aufregenderen Dingen zu oder flüchten in unsere Gedankenwelt. Es ist uns zwar möglich auch langfristige Aufgaben abzuschließen, allerdings meist nur mit vielen Unterbrechungen oder Pausen. Und nur dann, wenn unsere Aufmerksamkeit nicht ständig durch etwas in unserem Umfeld abgelenkt wird. Viele von uns beenden ihre Aufgaben deshalb nur mit ausreichenden Ergebnissen. Manchmal auch mit sehr schlechten.

 

Beispiele:

 

  • Während eines belanglosen Smalltalks mit ihrer Freundin driftet eine junge Frau geistig weg und gibt lapidare Antworten oder nickt höflich, bis sie von dieser sichtlich empört darauf angesprochen wird, ob sie überhaupt noch zuhöre.

 

  • Bei stupider Arbeit lässt sich ein Mitarbeiter leicht durch unwichtigere Dinge, wie der Beschäftigung mit seinem Smartphone ablenken. Als er eine Abmahnung dafür bekommt, lässt er sein Smartphone darauf nur noch in seinem Auto.

 

Obwohl wir mit unseren Gedanken zwischendurch regelrechte Quantensprünge machen oder uns kurzfristig einfach interessanteren Dingen zuwenden, schaffen wir es irgendwie unseren täglichen Verpflichtungen nachzukommen.

 

 

Die dritte Art bezieht sich auf die Ablenkung durch die Gedanken

 

Selbst wenn wir für einen Moment mal nicht durch ein Ereignis oder aus purer Langeweile abgelenkt werden, ist es möglich, dass wir unsere Aufmerksamkeit durch unsere Phantasie verlieren. Wenn beispielsweise etwas in unserem Hinterkopf sitzt. Ein Gedanke, der uns nicht loslässt, eine tolle Idee, die wir ausarbeiten, eine Aufgabe, die wir noch nicht beendet haben, oder ein Konflikt, der noch nicht gelöst ist.

Diese Gedanken verschmelzen zu einem großen Magnet aus Kreativität, Verpflichtungen, Aufgaben, Erinnerungen, Kummer oder Sorgen, dessen gewaltige Anziehungskraft wir nicht widerstehen können. Dadurch verlieren wir uns immer wieder in unsere Gedanken, fangen an zu grübeln und werden dabei von unserem eigentlichen Vorhaben abgelenkt.

 

…Es kann sein, dass ich an meinem Schreibtisch an irgendeinem Projekt arbeite,…

… und dann denke ich auf einmal, ohne mir dessen eigentlich bewusst zu sein, über irgendeinen anderen Gedanken nach, der mit meiner Arbeit zu tun hat. Dann verfolge ich diesen Gedanken weiter und stehe vielleicht vom Schreibtisch auf, um irgendetwas zu holen, und wenn ich dann gegangen bin, um die betreffende Sache zu holen, hatte ich schon wieder vergessen, was ich eigentlich holen wollte. Es ist fast so, als ob ich schlafwandeln würde …Viele interessante Gedanken gehen mir durch den Kopf, und ich werde unter Umständen von einer ganzen Reihe interessanter Ideen gefesselt, aber es kommt wenig dabei heraus…

(Hallowell/Ratey [22], S. 235)


 

9.3 Reizüberflutung

 

Im heutigen multimedialen Zeitalter wird unsere spezielle Wahrnehmung zunehmend zu einer großen Belastung, wodurch wir enorme Beeinträchtigungen in ihrem Alltag ertragen müssen. Der permanente Lärm, digitale Nachrichten oder Reklame, Menschenmengen, Termine und Verpflichtungen führen uns mit unserer reizfilterschwachen Sinneswahrnehmung an unsere mentalen Grenzen.

Die hohe Informationsdichte, welche unser Gehirn zu bewältigen hat, kann unter Umständen zur Überlastung der geistigen und psychischen Kapazitäten führen, welche allgemein als Reizüberflutung bezeichnet wird. Bei zu vielen Reizen kann unser Bewusstsein Sinneseindrücke nicht mehr zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden und somit richtig einstufen. Dadurch sind wir sehr schnell überfordert. Diese Überlastung löst Symptome wie Nervosität, Unruhe, Anspannung und Verwirrung aus, die sich zu ernsthaften psychischen und physischen Erkrankungen entwickeln und manifestieren können.

 

Obwohl wir mit unserer speziellen Wahrnehmung in der heutigen Gesellschaft viele Nachteile erfahren müssen und hohen Belastungen ausgesetzt sind, so zählt sie dennoch zu unseren herausragenden Eigenschaften.

Denn während gewöhnliche Menschen nur einen hohen Turm sehen, der zum Himmel hinaufragt, sehen wir mit dieser Eigenschaft die unsichtbare und aufwendige Konstruktion, die jedes Teil miteinander zu einem Ganzen verbindet.

 

 

 

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Einstein-Syndrom 2012-12-21  |  Copyright © 2014 Dirk Lostak