Einstein-Syndrom

6.                        Anpassung

 

„Wer seiner eigenen Sache untreu wird, kann nicht erwarten,

dass ihn andere achten.“

 

 

Menschen mit dem Einstein-Syndrom suchen ständig Achtung, ganz besonders unter den Mitmenschen, die anders sind als wir. Wir möchten dazu gehören, akzeptiert, ernst- und wahrgenommen werden. Vielleicht liegt es daran, dass wir eine Minderheit in der Gesellschaft darstellen. Dadurch haben wir ein regelrechtes Verlangen nach Bestätigung und Wertschätzung von unseren Mitmenschen.

 

Weil uns aber nicht bewusst ist, warum wir anders sind, werden wir uns den anderen Menschen immer etwas unterlegen fühlen, egal wie erfolgreich wir auch sind und wie groß unser daraus resultierendes Selbstwertgefühl ist. Deshalb hängen wir uns nicht selten an jemanden, der uns Vorbild ist, der so ist, wie man es von uns selbst dauernd erwartet, der uns den Weg weist und sagt, was richtig und was falsch ist. Das kann ein guter Freund sein, ein Kollege, eine Gruppe, der wir uns anschließen, oder gar der Lebensgefährte, den wir bewundern, ja fast anhimmeln.

 

Die meisten von uns sind leicht beeinflussbar, können nicht nein sagen, sich abgrenzen oder anderen gegenüber ihre Meinung vertreten, was nicht selten von anderen Menschen zu ihren persönlichen Vorteil ausgenutzt wird. Dies ist darauf zurückzuführen, dass uns sprichwörtlich das notwendige Selbstbewusstsein fehlt. Uns ist nicht bewusst, warum wir sind, wie wir sind, dass dies absolut nichts Schlechtes ist, dass auch wir besondere Fähigkeiten haben und es überhaupt keinen Grund dafür gibt sich unterlegen zu fühlen.

 

Unser „Ich“ strebt von Natur aus nach Freiheit, also nach Selbstverwirklichung. Doch seit der Geburt stehen wir unter dem Zwang der Verhältnisse, dem Umfeld, dem man zugehörig ist, sei es die Familie, die Gesellschaft oder eine andere Gruppe.

Je häufiger und ausgiebiger wir aber versuchen, so zu sein, wie es unsere Mitmenschen es von uns erwarten, umso frustrierter werden wir im laufe unseres Lebens und umso mehr werden wir uns verändern, denn durch den ständigen Anpassungsvorgang verlieren viele von uns mit den Jahren mehr und mehr ihren aufrichtigen und besonders liebenswerten Charakter.

 

…Viele Freunde hatte ich nicht, ich suchte dauernd Anschluss und hatte das Gefühl, nicht recht dazu zugehören. Ich wollte den anderen gefallen und lernte mich so selbst gar nicht kennen, geschweige denn, mich nur ein bisschen gern zu haben…

(Ryffel-Rawak [112], S. 75)

 

Ein Ausbrechen daraus setzt einen Energieaufwand voraus, zu dem nicht alle befähigt sind. So kommt es vor, dass einige von uns irgendwann Ideologien bewundern und Lebensweisen für richtig halten, die ihrer eigenen Lebensmoral in keiner Weise mehr entsprechen. Die natürlichen Prinzipen dieser Menschen können von diesen Vorstellungen völlig maskiert oder verdrängt werden, wenn sie den einen einzig erdenkbar richtigen Weg in Sozialverhalten, Politik und Weltanschauung für sich und den Rest der Menschheit suchen. Dies können im schlimmsten Fall sogar radikale Ansichten sein, welche eine völlige Abkehr von ihrem liberalen Grundgedanken sind.

Viele extremistische Bewegungen werden von Einstein-Syndrom-Menschen unterstützt. So sind viele als radikale Autonome tätig oder suchen in sozialen Randgruppen Achtung, wie zum Beispiel gewaltbereite Fußballgruppierungen.

 

Wir leben in einer Gesellschaft, die zum größten Teil nicht von uns gestaltet wurde und für uns geschaffen ist. Es ist, als würde ein Schwarzer in einer Welt voller weißer Menschen aufwachsen und sein leben lang ununterbrochen versuchen weiß zu werden. Dieser dauerhafte Anpassungsprozess kann durch das unterwürfige Verhalten von großen Enttäuschungen und tiefen seelischen oder auch körperlichen Verletzungen begleitet sein. Das Produkt ist ein stetig wachsendes Frustgefühl. Ein Gefühl, welches uns äußerst sensible Menschen das ganze Leben begleitet und mit der Zeit zu wütenden, jähzornigen, sogar gewaltbereiten Persönlichkeiten macht.

Traurig darin ist, dass einige wenige schon in der Schule damit beginnen andere abzuwerten um dadurch Bestätigung in ihrem gesellschaftlichen Umfeld zu erlangen. Vor allem die ihres gleichen werden gerne verspottet und verletzt. Denn obwohl sie es bewusst gar nicht wahrnehmen, erkennen sie sich in dem Verhalten anderer von uns wieder, verachten dieses aber zu triefst, weil sie ja selbst deswegen immer kritisiert und etikettiert wurden. So kommt es häufig vor, dass wir Kränkungen und Verletzungen, die wir erfahren mussten, an Artverwandten ausleben.

 

Im schlimmsten Fall kann es sogar zu gewalttätigen übergriffen in Familien- und Freundeskreisen kommen. Diese gebrochenen Menschen sind schon sehr weit von ihrem Selbst entfernt und nur noch an einem Punkt erreichbar, an dem sie ihr Verhalten und ihre Lebenseinstellung durch ihre Taten selbst in Frage stellen.

Wenn wir als symbolisch „schwarze“ Menschen jedoch erfahren, dass es noch viele andere „Schwarze“ in der Welt gibt, schafft dies unmittelbar ein Gefühl der Erleichterung und der eigenen Akzeptanz. Die Mehrheit von uns bleibt aber glücklicher Weise auch ohne dieses Wissen der eigenen Lebensmoral treu:

 

Einstein über die Berliner:

… Wie roh und primitiv sind sie. Eitelkeit ohne echtes Selbstgefühl. Civilisation (schön geputzte Zähne, elegante Kravatte, geschniegelter Schnauz, tadelloser Anzug) aber keine persönliche Kultur (Rohheit in Rede, Bewegung, Stimme, Empfindung). Nun will ich ja gerne zugeben, dass die beiden Dinge nicht unvermeidbar sind. Aber wenn ich anfange, mich körperlich zu pflegen, dann bin ich nicht mehr ich selber. Also für mich wäre es der Anfang einer (Gottseibeimir) Verberlinerung. Also zum Teufel damit.‹‹…

(Strauch [84], S.104)

 

Es gibt viele von uns, die der Anpassung widerstehen und jene Ansichten verfolgen, die ihren eigenen Prinzipien entsprechen. Das können Friedensbewegungen sein, Tierschutz-vereinigungen, Umweltschützer, Menschenrechtsvertretungen, oder einfach nur harmonische Freundeskreise unter Gleichgesinnten.

Andere suche ihre Bestätigung und eigene Ideologie in sportlichen, künstlerischen, kulturellen, wissenschaftlichen, unternehmerischen, oder erfinderischen Aktivitäten.

 

Bei vielen ist es eine ständige Wechselwirkung zwischen der Suche nach Achtung unter den anderen Menschen und der Abkehr davon zu den eigenen Prinzipien und einer natürlichen, friedfertigen Lebensmoral.

 

Albert Einsteins Glaubensbekenntnis:

…››Ich achte stets das Individuum und hege eine unermüdliche Abneigung gegen Gewalt und gegen Vereinsmalerei. Aus allen diesen Motiven bin ich leidenschaftlicher Pazifist und Antimilitarist, lehne jeden Nationalismus ab, auch wenn er sich nur als Patriotismus gebärdet … Ich bekenne mich zum Ideal der Demokratie, trotzdem mir die Nachteile demokratischer Staatsform wohlbekannt sind.‹‹…(Strauch [57], S. 197)

 

…››Solange mir eine Möglichkeit offen steht, werde ich mich nur in einem Land aufhalten, in dem politische Freiheit, Toleranz und Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz herrschen. Zur politischen Freiheit gehört die Freiheit der mündlichen und schriftlichen Äußerung politischer Überzeugung, zur Toleranz die Achtung vor jeglicher Überzeugung eines Individuums. Diese Bedingungen sind gegenwärtig in Deutschland nicht erfüllt.‹‹… (Strauch [58], S. 202)

 

 

 

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Einstein-Syndrom 2012-12-21  |  Copyright © 2014 Dirk Lostak