Einstein-Syndrom

13.                       Zeitgefühl

 

„Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.“

 

 

Jemand sagte mal: „Zeit ist das Ding, das alles davon abhält, zugleich zu passieren.“

Zeit stückelt Momente in kleine Teilchen, so dass wir eine Sache nur zu einem bestimmten Zeitpunkt tun können.

Für einen Mensch mit dem Einstein-Syndrom aber kollabiert die Zeit. Sie wird zu einem schwarzen Loch, dass jedes Zeitgefühl verzerrt. Für uns ist es, als ob alles zugleich geschieht. Das schafft ein Gefühl des inneren Tumults oder sogar der Panik. Wir verlieren die Perspektive, die Fähigkeit Prioritäten zu setzen und unsere Unternehmungen oder Aufgaben entsprechend in einen Zeitfenster einzuteilen. Wir haben ein schlichtweg inkonstantes Zeitgefühl. Daher stehen wir dauernd unter Zeitdruck.

 

Ein gutes Beispiel hierfür ist ein anstehender Termin in einer 20 km entfernten Stadt. Während gewöhnliche Menschen gelassen die Anreise antreten und etwa 5 – 10 Minuten vor dem Termin am Ziel eintreffen, beginnen wir die Anreise sehr hektisch, da wir die benötige Zeit bis zum anstehenden Termin einfach nicht richtig einschätzen können. Deshalb benötigen wir schon mit Vorbereitungen wie, Pflege, Styling, dem Einkleiden und Aufräumen viel mehr Zeit, als wir ursprünglich eingeplant haben. Sichtlich angespannt versuchen wir nun die verlorene Zeit durch eine zu schnelle und riskante Autofahrt wieder einzuholen. In der Stadt angekommen, unterschätzen wir nun die Dauer der „stopp and go“ – Phasen im Straßenverkehr oder verbringen zu viel Zeit mit der Suche nach einem geeigneten Parkplatz. Letztendlich treffen wir unsere wartenden und sichtlich genervten Freunde völlig atemlos und mit Schweißperlen auf der Stirn verspätet am Ziel an.

 

…Problem mit der Pünktlichkeit. Selbst wenn ich reichlich Zeit habe, vertue ich sie mit etwas und komme dann ins Gedränge, oder ich verlier aus den Augen, wie spät es ist. Ich habe kein Gefühl dafür, wie die Zeit vergeht… (Hallowell/Ratey [27], S. 155)

 

Es ist uns nicht möglich die genaue Zeitspanne für eine Unternehmung oder Aufgabe vorauszusagen. So fällt es uns besonders schwer auf die Frage „wann wir denn mit unserer Aufgabe fertig sind“ eine Antwort zu finden. Wir beginnen zu zögern, treffen unzureichende Aussagen, versuchen auszuweichen und suchen nach Ausreden. Für einen gewöhnlichen Mensch klinkt das dann so, als wollen wir ihm den konkreten Zeitpunkt gar nicht mitteilen. Die Wahrheit ist jedoch, dass wir es einfach nicht können.

 

…Ich bin nicht in der Lage, gefühlsmäßig die Zeit einzuteilen, was dazu führt, dass ich bei mehreren Aufgaben den Überblick verliere und unheimlich gestresst werde und nicht in der Lage bin, etwas Sinnvolles zu machen… (Ryffel-Rawak [71], S. 79)

 

Immer sind wir zu früh oder zu spät dran. Viele kommen sogar regelmäßig zu spät zur Arbeit. Der neue Tag beginnt für uns immer hektisch und chaotisch, es sei denn, wir haben eine strukturierte Vorgehensweise. Das bedeutet, dass wir einem festen Schema folgen, einem eingespielten morgendlichen Ablauf, dem wir dann der Reihe nach folgen können und in dem alle Gegenstände, die dafür benötigt werden, an einem festen Platz liegen. Diese Routine wird zu einem festen Plan, durch dessen Abfolge wir uns zeitlich orientieren können. Doch schon die kleinste Veränderung dieses Plans stürzt uns wieder in ein zeitliches Chaos.

 

„Ich lege mir schon am Abend Kleidung und andere Dinge zurecht, die ich für den nächsten Tag brauche. So weiß ich in etwa, wie viel Zeit für Frühstück, Pflege und Einkleidung vergehen.“ (Betroffener)

 

Die ständigen Verpflichtungen in unserer Gesellschaft sind für uns eine enorme Belastung. Wir werden stets von dem Gefühl begleitet, dass wir etwas nicht rechtzeitig schaffen, dass wir eine wichtige Aufgabe, die uns mahnend als quälender Gedanke im Hinterkopf sitzt, nicht rechtzeitig anfangen oder beenden, dass wir eine Verabredung verpassen, einen Termin versäumen, dass uns etwas entgeht, weil wir nicht rechtzeitig da sind. Am liebsten würden wir alles sofort und gleichzeitig erledigen, damit es endlich getan ist und der unerträgliche Druck verschwindet.

In einer Zeit, in der alles schneller und lückenloser funktionieren muss, ist es für uns eine unendliche Strapaze, alles zur rechten Zeit zu erledigen. Es ist, als wollten wir an einem Abhang hochklettern, der Stück für Stück in ein schwarzes Loch hinab rutscht.

 

Für uns ist Zeit ein dehnbarer Begriff, in dem alles mal schneller und mal langsamer abläuft. War der vorherige Tag noch ein kurzes Erlebnis, so kann der Nächste schon als unendlich lang empfunden werden.

 

Albert Einstein erklärte Relativität einmal mit den Worten:

…„Wenn man zwei Stunden lang mit einem netten Mädchen zusammensitzt, meint man, es wäre eine Minute. Sitzt man jedoch eine Minute au einem heißen Ofen, meint man, es wären zwei Stunden. Das ist Relativität.“…

 

Einsteins variables Zeitgefühl ließ ihn letztendlich schlussfolgern, dass die Zeit an sich keine fixe Naturkonstante im Universum ist, sondern aus der Sicht des Betrachters variiert, also relativ ist. Somit war der Grundgedanke zur Relativitätstheorie geboren, den er durch das Michelson – Morley – Experiment erhielt, welches die Unveränderlichkeit der Lichtgeschwindigkeit bestätigte. Demnach mussten Raum und Zeit für Einstein folglich veränderlich, also relativ sein.

 


 

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Einstein-Syndrom 2012-12-21  |  Copyright © 2014 Dirk Lostak