Einstein-Syndrom

4.                         Ausdauer

 

„Gott schuf den Esel und gab ihm ein dickes Fell.“ 


 

Aufgrund sich ständig wiederholender negativer Erfahrungen, Missverständnisse, Abwertungen und Bestrafungen bekommen Menschen mit dem Einstein-Syndrom in ihrem Leben große Probleme mit dem Selbstbild und ihrem Selbstwertgefühl. Wir sind stets ein Magnet für Kritik, Mahnungen, Anklagen, Bestrafungen und Gelächter.

 

Schon als Kind hören wir durchgehend, dass wir dumm, faul, zu weich, verlogen, stur und frech sind. Wir sind immer Schuld daran, wenn es Theater gibt, wenn die Familie zu spät kommt, etwas im Kaufmarkt auf den Boden fällt, sich die Eltern eines Freundes beschweren, die Klamotten mal wieder verschmutzt sind, der Klodeckel nicht runtergeklappt wurde oder der Besuch bei Bekannten abgebrochen wird. Wir erfahren mehr Kritik als Lob, mehr Demütigung als Motivation und nicht selten mehr Strafe als Zuneigung, oft auch im Schatten von Gewalt.

 

…Du bist nichts, Du kannst nichts, aus Dir wird nichts…

(Ryffel-Rawak [15], S.81)

 

In der Schule werden wir von den Mitschülern zum Anstifter oder Sündenbock gemacht. Echte Freunde finden wir nur selten. Wir sind meist der Außenseiter, das Opfer oder der Klassenclown. Mit Glück schaffen wir es unbeschadet als unauffälliger Mitläufer durch die Klassenstufen. Wirklich beliebt sind nur wenige von uns.

 

…Ganz schlimm war für mich, wenn ich ausgeschimpft oder ausgelacht wurde…

(Ryffel-Rawak [72], S. 53)

 

Dem Unterricht können wir nur schwer folgen. Ständig sind wir abgelenkt oder driften einfach weg. Uns fällt es schwer konstant Leistung abzurufen, konzentriert zu bleiben und eine Aufgabe zu beenden. Immer wieder werden wir dafür ermahnt und bestraft. Manchmal verlassen wir verletzt das Klassenzimmer um unsere Gefühle draußen zu sammeln oder gar heimlich zu weinen, wenn wir zuvor wieder einmal vor der gesamten Klasse bloßgestellt worden sind.

 

…Aber irgendwo im hintersten Winkel meines Kopfes wusste ich, dass ich kein Esel war, obwohl ich mir im Augenblick wie einer vorkam. Ich dachte, wenn ich den Schauplatz für eine Weile verließ und frische Luft schnappte, würde das zur Lösung des Problems beitragen. Und so ist es tatsächlich schon häufig in meinem Leben gewesen… (Hallowell/Ratey [23], S. 149)

 

 

Wir sind die Sorgenkinder der Lehrer. Der Schüler, der vorlaut ist, keine Manieren hat, nicht still sein und ruhig sitzen bleiben kann. Die Schülerin, die zurückhaltend, zu still, teilnahmslos und verträumt ist, immer abschweift und nicht aufpasst. Wir sind der Grund für Kritik beim Elternsprechtag oder das Nachsitzen. Lob ernten wir selten. Vielleicht mal vom Kunstlehrer, der Mathelehrerin oder dem Physikreferendar. Die halten uns womöglich sogar für begabt:

 

„Streng dich in den anderen Fächern mehr an! Du kannst es doch, wenn du willst. Du bist nur zu faul.“ (Eltern einer Betroffenen)

 

Hausaufgaben sind oft ein Hürdenlauf. Irgendwann fehlt die Motivation, weil es sowieso nicht klappt. Dann wird abgeschrieben oder sie werden erst gar nicht mehr gemacht. Dauernd sind wir frustriert. Echte Freudenjahre gibt’s in der Schule nur für wenige von uns.

 

…Ich habe gute Leistungen gebracht, und ich habe schlechte Leistungen gebracht, man hat mir gesagt, dass ich begabt bin, und man hat mir gesagt, dass ich blöd bin. Ich weiß nicht, was ich nun wirklich bin… (Hallowell/Ratey [24], S. 53)

 

Häufig werden Klassenstufen wiederholt oder sogar die Schule gewechselt, manchmal auch abgebrochen. Nach dem Abschluss sind viele von uns verunsichert. Diejenigen, die in einer Clique Rückhalt finden konnten, die Punks, Gruftis oder Nerds, sind da vielleicht etwas zielstrebiger. In Harmonie und Achtung ihrer Gruppe spalten sich die Teenager oft als Versager und ungeliebt empfunden langsam von ihrem kritischen Umfeld ab und richten sich nach den Interessen der Gruppe. Vielleicht werden dann Ideen und Meinungen über eine Ausbildung ausgetauscht, was stärkt und manchmal einen regelrechten Motivationsschub gibt. Andere verlieren sich in eine Beziehung und vergessen alles um sich herum. Die Einzelgänger klammern sich an den letzten Halm, das Gefühl irgendwie weiter zu machen und der Glaube daran vielleicht doch irgendwann auch mal Glück zu haben.

 

Einstein über seine frühen Entwertungen und Misserfolge:

… Es ist kein Wunder, wenn man nach und nach Menschenverächter wird… (Strauch [31], S. 44)

 

Und siehe da. Mit ein wenig von dem erwähnten Glück und einem mehr oder weniger gelungenen Schulabschluss beginnen die meisten von uns doch noch eine Ausbildung. Aber der mühevolle Weg endet hier nicht. Ging es in der Schule nur um unsere persönliche Leistung, spielt nun auch die Verantwortung eine entscheidende Rolle. Fehler dürfen hier noch weniger passieren und werden durch Bloßstellung, Arbeitsentzug oder Tätigkeiten als „Stift“ bestraft. Auch hier machen sich unsere ungewollten Unachtsamkeiten deutlich bemerkbar. Unterlagen werden falsch abgeheftet, Patienten im Wartezimmer vergessen, Werkzeuge verloren, oder Sachschäden an Maschinen durch falsche Bedienung verursacht.

 

Andere von uns, die eine Ausbildung finden konnten, welche ihnen liegt und in der sie vielleicht sogar richtig gut sind, erfahren dort zum ersten Mal, was Konkurrenz bedeutet. Wurden sie in der Schule gehänselt oder vielleicht sogar verprügelt, werden sie hier nun von Kollegen gemobbt und bei der Geschäftsleitung schlecht gemacht.

 

Bei den Studenten sieht es da schon anders aus. Entweder verzweifeln sie nach wie vor am Lehrstoff oder sie studieren in einem Fach, in dem sie begabt sind und erreichen ihr Diplom womöglich als Jahrgangsbester. In einer Führungsposition kommen diese zerstreuten Visionäre dann besser zu recht als ihre Brüder und Schwestern, da ihnen ja für die organisatorischen Aufgaben meist entsprechendes Personal zur Hilfe steht.

 

Aber auch die einfachen Angestellten und Arbeiter unter Menschen mit dem Einstein-Syndrom glänzen nicht selten mit herausragenden Leistungen und Ideen. Viele verwirklichen sich dadurch selbst und können bis in die höchsten Etagen unserer Wirtschaftswelt aufsteigen.

Die weniger erfolgreichen von uns quälen sich meist in Großraumbüros oder als Lagerarbeiter mit stupider Arbeit oder erreichen in Callcentern ihre persönliche Grenze mit einem Burnoutsyndrom. Der kleine Rest findet erst gar keine Arbeit oder wird laufend gekündigt.

 

In unseren Freundeskreisen sind wir zwar sehr beliebt, werden aber oft nicht richtig erst genommen und sorgen immer für Gelächter. Das rührt daher, dass es uns beispielsweise schwer fällt, einem Gespräch zu folgen, wenn sich mehrere Freunde miteinander unterhalten. Wir starren dann oft blicklos ins Leere und erwecken dadurch schnell den Eindruck, verträumt, gleichgültig, egozentrisch oder sogar feindselig zu sein, während wir einfach nur verwirrt sind beziehungsweise nicht mitbekommen, was um uns herum vorgeht.

Wird beispielsweise gerade ein Witz erzählt, verpassen wir schnell die Pointe und verstehen dann den Zusammenhang nicht, während alles um uns herum schon zu lachen beginnt. Oder wir reagieren mal wieder total gereizt und überdreht, schimpfen und verlassen beleidigt den Schauplatz, weil wir uns sofort verletzt fühlen, wenn wir wegen unserem chaotischen Verhalten von den Freunden belächelt werden.

 

Auch wenn wir von den Freunden wirklich gemocht werden und unsere extravagante Verhaltensweise toleriert wird, bleiben wir dennoch immer ein Sonderling, der aufgrund seiner liebenswerten Art aber unentbehrlich sein kann. Viele von uns tummeln sich sogar sehr häufig, wenn auch nicht bewusst, unter Gleichgesinnten. Und es ist keineswegs ein Zufall, dass diese Menschen zueinander finden.

 

Im Alltag läuft es nicht leichter. Autoschlüssel werden verlegt, die EC-Karte geht verloren, Strafzettel werden gesammelt, Mieten nicht pünktlich gezahlt und wichtige Termine nicht wahrgenommen. Alles mit langfristigen Konsequenzen, oft teuer, Nerven zerreißend und sehr belastend für uns und unseren Angehörigen.

 

Für den Partner sind wir unzuverlässig und unberechenbar:

"Ich weiß nie, was mich erwartet. Ich kann mich in nichts auf  ihn verlassen. Es ist ein richtiger Affenzirkus!“ (Aussage einer Partnerin)

 

Wir sind unordentlich, hören nicht richtig zu, vergessen Verabredungen, schmeißen mit Geld um uns, können keine Prioritäten setzen, nehmen keine Kritik an, reagieren ständig gereizt, sind nie da, wenn man uns braucht und haben stets eine Ausrede für alles parat. So flüchten wir letztendlich oft aufs tiefste verletzt aus einer Beziehung in eine neue oder werden auch häufig am Boden zerstört zurückgelassen. Diese sehr großen emotionalen Belastungen sind für uns sensible Menschen besonders schädlich.

 

Es gibt jedoch viele Einstein-Syndrom-Menschen, denen es gelingt, nicht ständig anzuecken oder zu versagen. Sie leben einfach nur ein temperamentvolles und euphorisches Leben mit extrem hohen Leistungen oft belohnt mit großem Erfolg. Andere hingegen leben ein ruhiges, zurückhaltendes und verträumtes Leben, in einem sicheren und strukturierten Umfeld, jedoch stets von dem Gefühl begleitet, dass sich ihre Welt am Rande eines Abgrunds befindet.

 

Menschen wie wir haben das „gewisse Etwas“ und sind wegen unserer besonderen Art bei unseren Freunden sehr beliebt. Wir sind zwar schwer einzuordnen, haben aber ein unleugbar vorhandenes Potential. Wenn wir dieses Potential einmal in Gang setzen, erzielen wir erstaunliche Resultate.

Unglücklicherweise ist jedoch die Zahl derer von uns größer, die schon seit ihrer Kindheit psychisch vorbelastet sind und daher nie die Chance bekommen haben, ihr Potential umzusetzen.

Trotzdem geben wir nicht auf und versuchen es jeden Morgen aufs Neue. Vielleicht weil wir in jedem Tag eine neue Chance wittern, eine Gelegenheit alles zu ändern und es noch mal zu probieren, auf das alles anders und besser wird. Wir sind zwar sehr sensible aber auch außergewöhnlich zähe Menschen, die wissen, was es bedeutet, ein Außenseiter zu sein, durchzuhalten und niemals aufzugeben.

 

…In dem Augenblick aber, wo ich anfange nachzudenken, ist das schlechte Gefühl wieder da. Es ist keine Verzweiflung. Ich habe nie versucht, mich umzubringen oder dergleichen. Ich hab bloß nie ein gutes Gefühl gehabt, was mich betrifft, was mein Leben betrifft und was die Zukunft betrifft. Es ist alles ein harter Kampf gewesen. Ich habe wohl immer gedacht, dass das Leben einfach so ist - eine lange Reihe von Enttäuschungen mit ein paar Lichtblicken dazwischen… (Hallowell/Ratey [25] S. 241)

 

„Die Hoffnung stirbt zuletzt“ könnte das Zitat einer Einstein-Syndrom-Person gewesen sein.

 

 

 

zurück                                                                                                            weiter

Einstein-Syndrom 2012-12-21  |  Copyright © 2014 Dirk Lostak