Einstein-Syndrom

16.                      Stimulation

 

„Wer sich nicht mehr Wundern kann, ist seelisch bereits tot.“

 

 

Ein weiterer Aspekt, in denen sich Menschen mit dem Einstein-Syndrom von ihren gewöhnlichen Mitmenschen grundlegend unterscheiden, ist die permanente Suche nach Stimulation. Das Bewusstsein gewöhnlicher Menschen kommt langfristig mit kontinuierlichen Situationen und Prozessen ohne emotionale Veränderungen zu Recht. Das Bewusstsein von Einstein-Syndrom-Menschen dagegen ist permanent auf neue Anregungen angewiesen.

 

Wir brauchen Veränderungen. Stagnation macht uns unruhig, Routine lässt uns langfristig frustriert und depressiv werden. Wir suchen das Neue und meiden Konstanz und Konservatismus. Aufgrund unserer absoluten Intoleranz gegenüber Langeweile sind wir ständig auf der Jagd nach Spaß, Action und Leidenschaft.

 

Das rührt daher, dass unser Gehirn mehr auf Stimulation ausgerichtet ist, als das Gehirn von gewöhnlichen Menschen. Während der Stoffwechsel im Gehirn von gewöhnlichen Menschen selbstregulierend und die Konzentration der Neurotransmitter Dopamin, Noradrenalin und Serotonin dadurch nahezu konstant ist, wird der Stoffwechsel und die Konzentration der Neurotransmitter in unserem Gehirn stark durch Emotionen beeinflusst.

Eine Emotion als Stimulus erhöht dabei die Ausschüttung von Dopamin und Serotonin in unserem Gehirn und führt dadurch unmittelbar zu einer besseren Befindlichkeit, welche mit einem beruhigenden Gefühl und einer Ausgeglichenheit einhergeht.

 

Durch das Bedürfnis und die Suche nach Stimulation, werden wir täglich animiert und inspiriert. Die mit der Stimulation einhergehende Befriedigung durch den Stoffwechsel im Gehirn wird dabei als Belohnung empfunden. Diese kann durch Selbststimulation in verschiedenster Weise erfolgen:

 

 

16.1 Stimulation durch Veränderung

 

Wir lieben den frischen Wind in ihrem Leben. Alltägliche Gegebenheiten und Umstände, die zur Gewohnheit werden, lösen bei uns schnell ein bedrückendes Gefühl aus, dem wir schleunigst entfliehen möchten. Objekte, Personen oder Situationen, die für uns nicht zum Grund- und Existenzbedürfnis zählen, werden dann schnell vernachlässigt, wenn nicht sogar aufgegeben. Die Stimulation erfolgt hierbei durch das Neue.

Hierzu werden folgende Beispiele aufgeführt, in deren unterschiedlichen Verhaltensweisen wir uns vollkommen unterscheiden können:

 

  • Wir suchen regelmäßig neue Hobbys.
  • Wir beginnen dauernd neue Projekte, meist ohne das Vorherige zu beenden.
  • Wir wechseln mittelfristig unser Studienfach oder den Beruf, um neue Herausforderungen zu finden.
  • Wir ändern häufig die Inneneinrichtung, renovieren oder sanieren, bauen an oder reißen ab.
  • Wir fühlen uns regional ungebunden und führen eine nicht sesshafte Lebensweise, die an einen Vagabund erinnert. Ständig reisen wir durch die Welt, suchen neue Wohnungen und ziehen in andere Städte.
  • Wir ändern immer wieder unser Erscheinungsbild durch unseren Kleidungsstil, die Frisur oder Haarfarbe. Auch Tattoos und Piercings werden verändert oder erweitert.
  • Wir sind nicht imstande langfristige zwischenmenschliche Beziehungen zu führen und wechseln deshalb wiederholt Freunde und Partner. Permanent sind wir auf der Suche nach neuen Kontakten.

 

…Ich liebte die Abwechslung, fand es toll mich immer wieder neu zu verlieben, doch das ››Verliebt sein‹‹ dauerte jeweils nicht lange. Schon nach kurzer Zeit empfand ich die Beziehung zu den Männern langweilig, so dass ich mich immer wieder in andere Jungs verliebte, in der Hoffnung, dass es der Richtige sei… (Ryffel-Rawak [66], S. 139)

 

 

16.2 Stimulation durch Grenzerfahrungen

 

Diejenigen unter uns, die nicht ängstlich sondern risikofreudig sind, suchen ereignisreiche, dramatische und waghalsige Situationen mit viel Spannung. Sie sind süchtig nach Action, Abenteuer und Gefahr. Die jeweilige Situation wird dabei meist nur einmalig aufgesucht und erlebt. Danach werden andere Grenzerfahrungen gesucht. Die Stimulation erfolgt hier durch den Nervenkitzel und die Neugier an der Sache in verschiedenster Form:

 

  • Extremsport (Motorradrennen, Bungeejumping, Fallschirmsprung, Freeclimbing, Marathon)
  • Abenteuerreisen (Expeditionen, Survival-Tour)
  • Körperkult (Tattoo und Piercing)
  • Gesetzüberschreitung (Diebstahl, Eindringen in abgegrenzte oder verbotene Bereiche)
  • Fundamentalismus (religiöse oder politische Ideologien und Gruppierungen)
  • Okkultismus (Astrologie, Alchemie, Magie und Spiritualismus)
  • Sexuelle Tabus (Affären, Promiskuität, Exhibitionismus oder Fetischismus)

 

…Für Menschen, die ihr Leben kontrollieren, um es für sich überschaubarer zu gestalten, ist es bereits eine Brüskierung und Kampfansage, die Ausschweifungen eines anderen anzuhören…(Ryffel-Rawak [67], S. 92)

 

 

16.3 Stimulation durch Enthusiasmus

 

Wir können uns durch Spaß und Freude an einer Sache auch langfristig für bestimmte Objekte, Themen und Situationen begeistern. Diese Leidenschaft erzeugt ein extremes Engagement für eine Sache oder ein mehr als durchschnittliches, intensives Interesse auf einem speziellen Gebiet. Unter äußersten Umständen kann sie sich jedoch auch in Sucht oder Fanatismus ausprägen. Die Stimulation erfolgt hierbei durch die Begeisterung für eine Sache:

 

  • Intensive Hobbys (Fußball-Fan, Musiker, Schwimmen, Motorradfahren)
  • Exzessiver Sport (Jogging, Fitness, Kraft training, Fußball, Badminton, Billard)
  • Spielsucht (Glücksspiele, Computer-Spiele, Smartphone)
  • Kaufsucht (Kleidungs- und Schuhkonsum, Internet-Auktionen)
  • Workaholism (Wissenschaft, Erfolgssucht, Anerkennung, Gemeinschaft, körperliche und geistige Auslastung)

 

…nicht jedem Menschen ist es gegeben, sein Leben leidenschaftlich zu leben… (Ryffel-Rawak [68], S. 92)

 

 

16.4 Stimulation durch zwischenmenschliche Zuneigung

 

 

Wir lassen uns auf intensive zwischenmenschliche Beziehungen ein. Durch das Gefühl für jemanden da zu sein, fühlen wir uns gebraucht und geliebt und überhäufen deshalb das Gegenüber mit unserer Aufmerksamkeit. Gleichzeitig erhalten wir durch die Zuneigung des Gegenübers selbst die notwendige Achtung. Das Bedürfnis nach emotionaler Verbundenheit zu einem Menschen rührt aus unserem Sinn für Gemeinschaftlichkeit. Jemanden an unserer Seite zu wissen, beruhigt uns innerlich. Die Stimulation erfolgt hierbei durch das positive Feedback des Gegenübers oder das Liebesgefühl:

 

Diese Zuneigung zeigt sich als:

 

  • Partnerliebe (Monogamie)
  • Familienliebe (Vaterliebe, Mutterliebe, Kindesliebe, Geschwisterliebe)
  • oder Nächstenliebe (Freundesliebe)

 

„Das intensive Gefühl geliebt zu werden und selbst für meine Liebsten da zu sein, ihre Nähe zu spüren, Zärtlichkeiten auszutauschen, macht mich glücklich und vollkommen zufrieden.“ (Betroffene)


 

16.5 Stimulation durch Libido

 

Hierbei stimulieren wir uns durch regelmäßige erotische und sexuelle Handlungen:

 

  • Flirten
  • Petting
  • Sex
  • Masturbation

 

…ich war übersexualisiert, in diesen Situationen konnte ich klar sehen… (Ryffel-Rawak [69], S. 139)

 

 

16.6 Stimulation durch Provokation

 

Einige von uns stimulieren sich durch ein aggressives Verhalten. Dies resultiert meist aus den großen Frustrationen, die sich im laufe unseres Lebens durch vielen negative Erfahrungen angesammelt haben:

 

  • Streitsucht
  • Schikane
  • Wandalismus
  • Rivalität
  • Hooliganismus

 

„Der Moment vor der Eskalation gibt mir den absoluten Kick. Nach dem Streit fühle ich mich dann innerlich ruhiger.“ (Betroffener)


 

16.7 Stimulation durch Drogen

 

Hierbei stimulieren wir uns nicht auf natürliche Weise, sondern mithilfe chemischer Stoffe (Stimulantia). Auch hier kann die Stimulation zu einer inneren Ruhe und Ausgeglichenheit führen. Die Auswirkungen durch die Einnahme von Stimulantia in größeren Mengen haben bei uns einen Umkehreffekt und wirken dann nicht mehr mit einer Euphorisierung und Erregungserscheinung, wie bei gewöhnlichen Menschen. Zu den Stimulantia zählen:

 

  • Koffein (Kaffee, Cola, Energy-Drinks)
  • Alkohol (Bier, Weine, Spirituosen)
  • Nikotin (Tabak)
  • Cannabis (Marihuana, Haschisch)
  • Amphetamine (Ecstasy, Speed)
  • Tropanalkaloide (Kokain)

 

…Seit einem Jahr helfen mir Zigaretten, mich für einen Moment zu beruhigen…  (Ryffel-Rawak [70], S. 127)

 

„Wenn ich kokse, fühle ich mich ausgeglichener. Ich kann mich länger auf eine Sache konzentrieren und besser von äußeren Einflüssen abgrenzen. Allerdings entsteht währenddessen auch ein emotionales Taubheitsgefühl, als wenn ich von meinen Gefühlen abgeschnitten bin. Ich hatte vorher angenommen, dass eher das Gegenteil passiert.“ (Betroffene)

 

 

16.8 Abhängigkeit

 

Da bei uns die Konzentration der Neurotransmitter Dopamin, Noradrenalin und Serotonin in Gehirn, welche zu einer allgemein besseren Befindlichkeit führen, stark von äußeren Reizen abhängig ist, sind wir somit permanent auf stimulierende Erlebnisse angewiesen. Deshalb führen wir meist ein sehr temperamentvolles und leidenschaftliches Leben, welches sich stark an dem Bedürfnis nach Spaß, Spannung, Liebe, Lust und Rauschmitteln orientiert.

 

Dieses ununterbrochene Bedürfnis kann jedoch leicht zu einer Abhängigkeit in allen genannten Weisen ausarten. Die Abhängigkeit wirkt sich dann als Verhaltens- und Substanzsucht aus und macht sich in Form von Diskontinuität, Risikofreude, Unterwürfigkeit, sexuellen Ausschweifungen und regelmäßigen Suchtmittelgenuss bemerkbar. Es ist deshalb eine logische Schlussfolgerung, dass sich viele Einstein-Syndrom-Menschen unter den Suchtmittel-Abhängigen befinden.

 

Aber nicht alle von uns gehen ihren Bedürfnissen nach. In einer Gesellschaft, die sich streng an Regeln, Normen und Gebräuchen orientiert, erfordert es ein gewisses Maß an Selbstvertrauen und vor allem Mut, sich diesen Idealen zu entziehen und sich den von den gewöhnlichen Menschen als Ausschweifungen etikettierten eigenen Wünschen hinzugeben, mit der Gefahr dabei als asozial entwertet zu werden.

 

Viele von uns, die sich im Laufe ihres Lebens unter großen Anstrengungen angepasst und streng diszipliniert haben, widerstehen diesen Bedürfnissen, indem sie diese abwerten und unterdrücken, was jedoch langfristig zu einem Zwangsverhalten mit gravierenden psychischen und Somatoformen Störungen führt (Chronische Depression; Bipolare Störung; Borderline-Syndrom; Zwangsstörung; Angststörung; Fibromyalgie, Reizdarmsyndrom usw.).

 

Menschen mit dem Einstein-Syndrom brauchen Stimulation. Es ist unser Lebenselixier, ohne welches unsere Seele langsam auszutrocknen scheint. Die Suche nach natürlichen Reizen ist eng mit unserer Lebensweise verbunden. Reichen diese nicht aus, hat das langfristig negative Auswirkungen auf unsere allgemeine Befindlichkeit.

 

…Bis vor wenigen Monaten habe ich auf ein Wunder gehofft. Aber das gibt es nicht, dieses Wunder. Ich habe eigentlich alle Hoffnung aufgegeben und wäre manchmal fast froh, wenn sich irgendeine Katastrophe ereignen würde, nur damit etwas passiert… (Ryffel-Rawak [78], S. 94)


 

 

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Einstein-Syndrom 2012-12-21  |  Copyright © 2014 Dirk Lostak