Einstein-Syndrom

18.                      Naturverbundenheit

 

„Freude am Schauen und Begreifen ist die schönste Gabe der Natur.“

 

 

Viele der besonderen Eigenschaften des Einstein-Syndroms prägen sich beim Individuum unterschiedlich stark aus. Wir alle teilen jedoch eine einzigartige Gabe, die von Geburt an zu unserer eigenen Natur gehört. Sie ist das Begreifen natürlicher Abläufe mit einer Verbundenheit zur Natur selbst.

 

 

18.1 Schauen und begreifen

 

Niemand sonst besitzt ein so großes Interesse für natürliche Phänomene mit einem tief greifenden Verständnis für seine Gesetze, wie wir. So fallen wir in der Gesellschaft besonders dadurch auf, dass wir selbst scheinbar unbedeutenden Sachen große Bedeutung beimessen. Unser Hang zur Detailverliebtheit, Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit ist instinktiv und erfordert eine ruhige Atmosphäre mit viel Zeit und Ausdauer. Dabei sind wir hochkonzentriert sein, weil wir die Dinge nicht nur verstehen, sondern ergründen wollen. Wir sind sehr wissbegierig und verspüren ein regelrechtes Verlangen nach emotionalem und geistigem Verständnis, um die Erkenntnis zu erlangen, warum die Dinge sind, wie sie sind.

 

Wenn wir als Kinder zum ersten Mal einen Schmetterling sehen, die Hitze des Feuers spüren, die Gewalten des Wassers erleben, oder in die Unendlichkeit der Sterne blicken sind wir davon völlig fasziniert. Alles wird bis ins Detail taxiert. Dabei ermöglichen unsere Intuition und unser scharfer logischer Verstand uns natürliche Abläufe grundlegend zu begreifen. Die Kausalitäten werden mithilfe von Emotionen wirklich spürbar gemacht und durch unsere Kognition erkannt:

 

„Als meine Mitschüler im Physikunterricht noch überlegen und raten mussten, warum ein rollender Ball auf einer Ebene langsamer wird, spürte ich schon aus meiner natürlichen Erfahrung heraus, dass die durch die Gravitation einwirkende Reibung und der Luftwiderstand den Ball kontinuierlich abbremsen. So war es mir möglich, die Zusammenhänge und Abläufe auch ohne Worte der Lehrkraft sofort zu verstehen.“ (Betroffener)

 

Wir haben ein besonderes Verständnis für Uraschen und Zusammenhänge in den Naturwissenschaften. Schon in der Schule macht sich unsere Begabung überdurchschnittlich häufig in den Fächern Physik, Chemie und Biologie daher bemerkbar. Und auch die Mathematik liegt uns besonders gut.

Später findet man uns deshalb häufig in Berufen als Mechaniker, Elektriker, Ingenieure, Physiker, Chemiker, Biologen, Geographen, Meteorologen, Astronomen, Mathematiker und auch als Informatiker oder in der Telekommunikation.

 

Albert Einstein über sein Verhältnis zur Natur:

…"Ohne den Glauben daran, dass es grundsätzlich möglich ist, die Wirklichkeit durch unsere logischen Konstruktionen begreiflich zu machen, ohne den Glauben an die innere Harmonie unserer Welt, könnte es keine Naturwissenschaft geben. Dieser Glaube ist und bleibt das Grundmotiv jedes schöpferischen Gedankens in der Naturwissenschaft."… (Liß [40])

 

 

18.2 Verbundenheit zur Natur

 

Einstein-Syndrom-Kinder verbringen ihre Freizeit überwiegend im Freien. Wir empfinden es als eine große Freude in der Natur zu spielen. Nichts hält uns davon ab, kein Regen, Wind oder Gewitter. Wir spielen in Pfützen, klettern auf Bäume, warten durch Matsch, verstecken uns in Feldern oder vergraben uns im Sand. Und wir mögen das Wasser. Es macht uns besonders viel Spaß zu schwimmen und zu plantschen.

Schon als Kinder sind wir Pioniere. Wir wagen uns immer ein Stück weiter, suchen neue Umgebungen und Spielplätze. Wir wollen immer wissen, was hinter dem nächsten Hügel liegt, was sich im Gebüsch versteckt und auf der anderen Seite des Bachs befindet. Wir suchen geheime Plätze und bauen Verstecke, in denen wir uns zurückziehen können und Schutz finden. Wir lieben das Verstecken und ganz besonders lieben wir das Klettern. Ob Bäume, Felsen, Zäune, Mauern, Laternen oder Balkone, kein Hindernis ist uns zu groß, kein Objekt zu steil und kein Aussichtspunkt zu hoch. Wir versuchen alles zu erklimmen, oft mit akrobatischen Ambitionen, wenn wir beispielsweise wie ein Spinne Kopfüber an einem Seil hängen oder an einem Balken hangeln.

 

…Am liebsten war ich draußen, z. B. im Wald, nur nicht im Haus…

(Ryffel-Rawak [14], S. 126)

 

Der besondere Bezug zur Natur macht sich auch im Umgang mit Tieren bemerkbar. Alle Tiere werden beobachtet und berührt, denn Einstein-Syndrom-Kinder haben keine Angst und empfinden keinen Ekel vor Tieren. Ob Grashüpfer, Schmetterling, Marienkäfer oder Ameise, was versucht davon zu fliegen oder zu krabbeln, wird gefangen. Und mutig werden Vogelnester, Ameisenhaufen und Bienenstöcke erkundet. Während anfangs noch viele Tiere unserer jungen Neugier zum Opfer fallen, entwickeln wir schon bald eine enge Bindung zu Tieren, die sich zu einem intensiven Mitgefühl entwickelt. So werden Insekten aus Spinnennetzen befreit, Küken ins Vogelnest zurückgesetzt und verletzte Tiere mit nach Hause gebracht.

 

Allerdings ändert sich dieses Verhalten meist mit zunehmendem Alter. Denn obwohl wir unsere Bindung zur Natur ein Leben lang behalten, verbringt die Mehrheit von uns ihre Jugend- und junge Erwachsenenzeit mit Körperkult, Lifestyle, exzessiven Partys und Events, Alkohol- und Drogenkonsum, oder dem Dahinvegetieren vor dem Fernseher oder Computer.

Das rührt daher, dass wir durch den ständigen Anpassungsprozess und der Suche nach Achtung unter unseren Mitmenschen mit zunehmenden Alter leicht zu beeinflussen sind und uns dadurch von unseren eigenen Interessen und Vorlieben leicht ablenken lassen. Nicht selten werden wir dann von unseren Mitmenschen für unsere Natur- und Tierliebe belächelt, was meist eine innere Verlegenheit auslöst und zur Verdrängung unseres Mitgefühls führt. Trotzdem sind unsere besondere Bindung zur Natur und die Zuneigung zu Tieren sind allgegenwärtig, denn immer noch schauen wir in den Himmel wenn ein Schwarm Vögel vorbeifliegt, bewundern den Regenbogen, der am Horizont erscheint, sind von einem Vulkanausbruch fasziniert, der im Fernsehen gezeigt wird, oder werden beim Camping mit unserem verträumten Blick vom Lagerfeuer gefesselt. Und gerne laufen wir Barfuss, am liebsten in der freien Natur.

 

Albert Einstein: …„Wozu Socken? Sie schaffen nur Löcher!“… (Tüngler [100])

 

Zu seinem 50. Geburtstag möchte die Stadt Berlin Einstein ein Haus schenken:

…Einstein wünscht sich ein Haus am Wald, in der Nähe eines Gewässers, möglichst aus Holz… Ein Leben in freier Natur ist ganz nach seinem Geschmack, zumal der da ohne Socken herumlaufen kann…

(Strauch [2], S.175)

 

Das Einstein-Haus in Caputh bei Berlin

 
Einstein liebt sein neues Grundstück in der freien Natur:

…››Trotz der durch dasselbe erzeugten Pleite. Das Segelschiff, die Fernsicht, die einsamen Herbstspaziergänge, die relative Ruhe, es ist ein Paradies.‹‹…

 (Strauch [3], S. 179)

 

Es sind jedoch die Gewässer, die uns am meisten beeindrucken. Ob Ozeane, kleine Seen, Flüsse oder Wasserfälle. Alle üben eine scheinbar magische Anziehungskraft auf uns aus.

 

…Das Segeln ist eins von Einsteins größten Vergnügen… (Strauch [4], S. 182)

 

Caputher See

 

Wir entdecken unsere Liebe zur Natur wieder, wenn wir von der Reizüberflutung der multimedialen Welt überstrapaziert sind, wenn wir auf der Suche nach Action und Begeisterung unsere Gesundheit vernachlässigt haben, wenn unsere eigenen Kinder das Interesse zur Natur neu wecken oder wenn wir Freunde finden, die ebenfalls ihre Freizeit in der Natur verbringen.

 

Es gibt jedoch viele von uns, die den Bezug zur Natur niemals verloren. Das sind die Naturwissenschaftler und Forscher, die Botaniker, Tierpfleger, Pfadfinder, Bergsteiger, Segler, Überlebenskünstler, Wildhüter oder Angler.

Und selbst die Leihen unter uns haben im laufe ihres Lebens Kenntnisse erlangt, welche manchen Experten zum Staunen bringen würden. So kommt es vor, dass beim Blick in den Himmel das Wetter für den nächsten Tag richtig vorhergesagt wird oder ein kleiner Junge seiner Mutter erklärt, dass der kreisende Adler am Horizont durch Thermik aufsteigt.

 

Das Wissen, was wir im laufe unseres Lebens über die Natur erlangen, vergessen wir nicht. Die Freude und Neugier an ihr, im Zusammenspiel mit den Wundern der modernen Technik, bleibt ein Leben lang bestehen.

 

 

 

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Einstein-Syndrom 2012-12-21  |  Copyright © 2014 Dirk Lostak